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Kolumne

#9 Über den Dächern von Kopenhagen

Seit Jahren sprießen in vielen Städten immer mehr Urban-Farming-Projekte aus dem Boden. Redakteurin Svenja hat sich auf Dänemarks erster Dachfarm umgesehen.

Svenja
Svenja, Redaktion

Das Leben in den Metropolen dieser Welt wird nicht nur hektischer und anonymer, sondern auch voller. Geradezu proppevoll. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge werden 2050 ca. 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben, viele davon in Städten. Um der zunehmenden Urbanisierung und dem rasanten Weltbevölkerungswachstum entgegenzuwirken, tüfteln bereits viele Menschen, Organisationen und Unternehmen weltweit über neuen Lebens- und Ernährungsmodellen.

Wie sieht zukünftig das Leben in der Stadt aus? Wie ernähren wir die stetig wachsende Bevölkerung? Und wie können wir unsere Städte grüner gestalten und ungenutzte Stadtflächen für Ackerbau nutzen? Die Antwort auf diese existentiellen Fragen fangen oft im Kleinen an: Hochbeete in der Fußgängerzone, Kräuterwiesen im Park, Kleingartenanlagen am Stadtrand ... mittlerweile sprießen selbst in vielen Kleinstädten erste Urban-Farming-Projekte aus dem Boden und lassen ungenutzte Flächen wortwörtlich aufblühen. Ich liebe diesen Spirit: Aktiv werden, zusammen anpacken und die Stadt für alle lebenswerter und nachhaltiger gestalten. Selbst ist der Städter!

Stadtplanung at its best

Wenn ich mich in Sachen nachhaltiger Stadtplanung sowohl im kleineren als auch größeren Stil inspirieren lassen will, schweift mein Blick unwillkürlich nach Kopenhagen. Es fängt damit an, dass ich jedes Mal, wenn ich dort bin, der absoluten Freiheit des Radfahrens frönen kann, wie nirgendwo anders. Und während ich an Gebäuden, Plätzen und Parkanlagen vorbei cruise, die nicht nur chic, sondern auch innovativ, praktisch und oft sogar nachhaltig gebaut sind, frage ich mich immer öfter: Wieso muss ich extra nach Kopenhagen fahren, um zu sehen, wie man die Dächer eines Kraftwerkes in eine Schneepiste für Städter verwandeln kann, oder einen dunklen, anonymen Stadtstreifen zu einem bunten, öffentlichen Platz für Begegnung umgestaltet, an dem sich Dänen und Migranten, Kinder und Senioren gleichermaßen wohlfühlen?

Keine Frage, die Dänen machen ganz viel richtig. Auch mein letzter Kopenhagen-Trip hinterließ wieder dieses ganz besondere I-Feel-like-I-am-in-Disneyland-Gefühl. Dafür hat nicht zuletzt das Projekt ØsterGRO gesorgt, das ich schon seit Längerem besuchen wollte: Hoch über den Dächern Kopenhagens betreiben die Freunde Kristian Skaarup und Livia Urban Swart Haaland die erste Rooftop-Farm Dänemarks – und ich durfte dort vorbeischauen und BOOMbastisch speisen!

Urban Farming auf dem Dach

Ich hatte 2014 erstmals von ØsterGRO gelesen, als das Projekt ganz frisch ins Leben gerufen wurde. Die Vision der Gründer: eine City-Farm mit lokaler und nachhaltiger Landwirtschaft, die den Stadtbewohnern die Möglichkeit gibt, biologischen Ackerbau aus nächster Nähe mitzuerleben und zu unterstützen. Hierfür haben sie das 600 Quadratmeter große Dach einer alten Autowerkstatt im Stadtteil Østerbro gemietet und mit insgesamt 110 Tonnen Erde in ein Gemüseparadies mit eigenem Hühnerstall, mehreren Bienenvölkern, Kaninchenhaus und Kompostanlage verwandelt. Seitdem agiert ØsterGRO als ein Verein, der seinen Mitgliedern (getreu den Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft) jede Woche eine Gemüsekiste zur Abholung bereitstellt. Parallel betreibt ØsterGRO unter dem Namen GROspiseri in einem schnuckeligen Gewächshaus direkt auf dem Gelände regelmäßige Dinner-Abende. Urban-Farming und Farm-to-table sozusagen in einem! Ich war neugierig und meldete mich für ein vegetarisches 2-Gänge-Menü in der GROspiseri an.

Grospiseri
Auf insgesamt 600 Quadratmetern Fläche wird Gemüse angebaut

Wir steigen aufs Dach

Als ich die ellenlange Wendeltreppe im Hinterhof zu ØsterGRO hinaufsteige, habe ich Mühe, meine Höhenangst im Zaum zu halten und starre wie hypnotisiert auf die Schuhe meines Vorgängers. Erst nachdem wir wieder ebenen Boden unter den Füßen haben, wage ich mich umzusehen. Für diesen Anblick hat sich der Mut gelohnt: Gemüsewildwuchs soweit das Auge reicht. Links stehen drei Bienenstöcke, rechts prasselt ein kleines Tonnenfeuer, weiter hinten gackern Hühner und hinter der Kulisse des Gewächshauses, zu dem ein kleiner gepflasterter Weg führt, bahnt sich ein atemberaubender Sonnenuntergang an.

Genau in diesem Gewächshaus findet heute das vegetarische Dinner statt. Ein Blick durch die Fenster verspricht einen urgemütlichen Abend: An der langen, weiß gedeckten Tafel stehen zu beiden Seiten Sitzbänke, auf denen Schaf-Felle ausgelegt sind. Auf dem Tisch ist bereits mit bunt gemixten alten Porzellantellern, Wasserkaraffen und Blumen für insgesamt 30 Leute gedeckt. Die Vorfreude steigt! Eine Frau mit buntem Turban nimmt uns die Jacken ab und präsentiert die Getränke. Es gibt selbst angesetzten Kombucha, französischen Cidre, einen Aperitif mit Wein und Orange, dreierlei Bio-Weine und dänisches Bier. Die Frau wirft einen Blick auf ihren Sitzplan und teilt jedem Dinner-Teilnehmer einen Platz an der Tafel zu. Das Socializing beginnt und jeder kommt ins Gespräch mit seinen Sitznachbarn. Die Stimmung ist freundlich und entspannt. Mir gefällt die bunte Mischung an Leuten: ältere Paare sind genauso vertreten wie junge Dänen und Familien mit Kleinkindern. Während wir auf den Start des Dinners warten und die gelassene Atmosphäre auf uns wirken lassen, muss ich mir immer wieder sagen, dass ich gerade über den Dächern Kopenhagens auf einer Farm in einem Gewächshaus sitze und gleich essen werde.

Grospiseri Tisch
Gewächshaus mit Hygge-Flair

Essen im Hygge-Style

Bevor es mit dem eigentlichen Menü losgeht, erzählt uns die Frau mit dem Turban mehr über das Projekt und stellt den Küchenchef vor. Tatsächlich wird fast alles, was hier auf den Tisch kommt, direkt auf dem Dach angebaut. Für manche Gerichte beziehen sie zusätzlich biologische Lebensmittel aus Kooperations-Projekten in Kopenhagen und Umgebung. Heute gibt es als Hauptgang gegarte Rote Bete mit buntem Salat und Austernpilzen im Tempurateig. Während die Beten und der Salat direkt von hier stammen, beziehen sie die Austernpilze von Beyond Coffee. Ein Projekt aus Kopenhagen, das Pilze auf altem Bio-Kaffeesatz anbaut, den sie von lokalen Café- und Bistrobesitzern abholen. Was für eine coole Idee! Wir erfahren, dass nur rund 0,02 % der Nährstoffe im Kaffeepulver durch das Kochen von Kaffee überhaupt genutzt bzw. freigesetzt werden. Eigentlich eine ganz schöne Verschwendung an Ressourcen. Ich nehme mir für den heimischen Kaffeesatz vor, in Zukunft mehr daran zu denken und ihn zum Düngen für mein Gemüse zu nutzen. Dann steht das leckere Essen auf dem Tisch. Mir gefällt, dass nicht jeder ein fertiges Gericht auf dem Teller serviert kriegt, sondern das Essen auf Tabletts und in Schalen aus der Küche kommt. Jeder bedient sich selbst und verteilt die verschiedenen Komponenten auf den Tellern seiner Sitznachbarn. Wie bei Oma, Essen im Hygge-Style eben. Am Ende des Dinners klettere ich inspiriert, glücklich, satt (und auch etwas mutiger) die Wendeltreppe wieder herunter. Wenn ich mir heute etwas wünschen dürfte, würde ich mir einen solchen Ort in meiner Nachbarschaft wünschen.

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